In Wien

Als man sich in Wien dem Zentrum der Innenstadt zu nähern beginnt, dem Stephansplatz, erblickt man von Zeit zu Zeit neben dieser oder jener Hauswand oder, hie und da, sogar einer Baumkrone, jedoch über viele Dächer emporragend, schon von Weitem die schlanke Spitze des Domes. Aber, interessant, je näher man kommt, desto seltener bietet sich dem Besucher der Blick auf den Turm. Ganz in der Nähe des Platzes verliert sich die Möglichkeit, den Turm zu sehen, ganz. Die umliegenden Bauten sind genug hoch, die Gassen aber nicht zu breit, oft richtige kleine Gäßchen — und gar nichts deutet auf eine Überraschung hin. Als man aber endlich die große Fläche des Platzes erreicht, bemerkt man, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat. Auf der unerwarteten Weite des flachen Raumes stehst du plötzlich vor etwas ganz anderem, vor der erdrückenden Größe der Gerade in die Höhe, wie aus einem Wurf geschaffen, eigen und einzigartig ... Man merkt, das ist der verzweifelte Schrei der Hoffnung und der Schrei des Glücks, gerichtet an den Himmel und die Ewigkeit – den Gott.

Und gerade gegenüber der Stephanskirche gibt es in Wien ein Kaffeehaus, das Dom-Cafe. Hier, im ersten Stock, saß ich im späten November 1983 zusammen mit Lev Detela, wir tranken Kaffee und Saft. Als Slowene, der die slawischen Sprachen studiert und bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr in Jugoslawien gelebt hatte, sprach er ausgezeichnet serbokroatisch. Und weil er von seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Wien wohnte und in den letzten Jahrzehnten auch auf Deutsch schrieb, beherrschte er Slowenisch und Deutsch gleich gut…

Lev Detela ist so alt wie ich, herzlich, einfach und direkt. Sofort hat er mich gefragt: "In welcher Sprache werden wir uns unterhalten? Wenn möglich, in Serbokroatisch, wegen meiner Übung!"

Das kam mir zurecht. Ich sagte ihm, daß ich sehr froh wäre, wenn man meine serbischen Arbeiten ins Deutsche übersetzen könnte.

Detela schreibt vor allem Gedichte und kürzere Prosa-Texte, oft auch Hörspiele, durchwoben mit vielen Metaphern, aber keine nackte Phantastik, auf jeden Fall in einem einfachen Stil und in einer klaren Sprache, obwohl, natürlich, mehrdeutig...

Er überreichte mir einige neue Nummern der Zeitschrift LOG.

"In einer veröffentlichten wir ein neues Gedicht von Gojko Djogo", sagte er. "Aus der Gedichtsammlung Die Zeiten aus Wolle".

"Sehr gut", sagte ich. "Deshalb wäre ich dankbar auch für die Übersetzungen meiner Texte... Ich bin nämlich nicht überzeugt, in Jugoslawien einen Verleger zu finden."

Detela nickte mit dem Kopf. Es war ja ein freundliches Gespräch. Doch er fragte dann: "Warum verhaftet ihr die Dichter?"

Ich war überrascht.

"Wer?" fragte ich.

"Wer doch ... Ihr in Belgrad."

"Doch nicht wir. Nicht ich", rief ich aufgeregt. "Das tun die Kommunisten!" Und begann instinktiv auf Deutsch zu sprechen, als ob das Manifest der kommunistischen Partei ursprünglich nicht in deutscher Sprache verfaßt wurde.

Er nickte wieder mit dem Kopf, doch ich war nicht mehr überzeugt, daß er alles versteht und richtig unterscheidet.

Später las ich einige Passagen aus den Büchern von Lev Detela, aus den mir geschenkten Zeitschriften sogar ein oder zwei von seinen Hörspielen: er hat seinen eigenen Weg und seine eigene literarische Art. Als Künstler ist er imstande, seinen eigenen Stil zu überspringen oder zu verändern und ist fahig, aus der Begrenztheit einer vorgegebenen Struktur zu entfliehen. Doch, wenn die zweite oder die dritte Sprache in Frage kommt (Die anderen Menschen und die Lebensweisen über viele Berge und Täler), wer hat dann schon die Kraft, um eigene Sicht und eigene Gedanken zu verschärfen, wer hat schon die Zeit, um von seinem Weg zu treten und etwas zu analysieren, geschweige, das sogar zu unterstützen, außer mit einem schönen Wort und einem liebenswürdigen Vorschlag? An sich ist nämlich nur eine allgemeine Ansicht erlaubt, der zweckmäßige und vereinfachte Eindruck. So ist es überall in der Welt, in jeder beliebigen Stadt auf dieser Erde. Dort herrschen die Kommunisten, hier nicht. Dort verhaftet man die Leute und führt Krieg, hier nicht. Es ist so nicht nur mit dem Herrn Detela, so ist es an sich im allgemeinen, und das ist ganz natürlich.


Übersetzt von Lev Detela aus dem Prosaband "Pesnik i njegova zena" (Der Dichter und seine Frau), Belgrad 1994 — und wurde in seiner Zeitschrift für internationale Literatur LOG veröffentlicht, No 83/99, mit folgendem Kommentar:

Milan Nešiæ veröffentlichte in serbischer Sprache mehrere essayistisch-philosophische Bücher (z.B. im Jahre 1976 die Publikation Der Essay über den Gott (Esej o Bogu) und im Jahre 1991 den Band Durch den Sozialismus zum Gott (Kroz socializam do Boga) und Erzählungen. Siehe auch seinen LOG-Beitrag über die literarisch-geistige Situation in Serbien nach Tito (Nr. 69, 71, 73/1996).

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