Ein Papierfetzen

Am selben Tage bemerkte ich, als ich von der Arbeit nach Hause kam, schon von weitem an der gläsernen Eingangstür einen Zettel, einen Anschlag. In Fluren und an Anschlagtafeln fallen mir solche Dinge gewöhnlich nicht auf. Dieser hier schien einen aber direkt am Ärmel zu zupfen. Schon von weitem schwebte das weiße Papier scheinbar in der Luft, und mir sprang das mit großen Buchstaben geschriebene REPARATUREN ins Auge. Außerdem stieß man ja beinahe mit der Nase darauf, man mußte den Text fast mit der Hand berühren, wenn man nach der Tür griff und sie aufstieß. REPARATUREN. Noch eine Geldschneiderei, dachte ich und wollte vorbeigehen, als es mir vorkam, dahinter stände… von elektrischen Geräten aller Art… Da will also ein Kollege Geschäftchen machen! Ich blieb stehen und tat sogar einen Schritt zurück. Richtig: …elektrische Geräte, Radios, Fernsehapparate. Nachfragen bei Diplom-Elektroingenieur… Ein Ingenieur auch noch!… In Nummer fünf… Mein Gott, unglaublich. Ich ließ die Tür los, sie fiel wieder ins Schloß, zusammen mit der Anzeige. Dann las ich, Buchstabe für Buchstabe: vierzehnter Stock bei Vasilije Simonoviæ. Ich stand eine Zeitlang da, starrte auf das Papier, dann hätte ich es am liebsten abgerissen und zerfetzt. Ich stieß mit dem Fuß heftig an den Metallrahmen der Tür, die jäh zurücksprang, und die Anzeige schien zu zittern. Ich rannte in die Wohnung, warf die Tasche aufs Bett und preßte krampfhaft den Schlüsselbund in der Hand. Dann schloß ich rasch den Wandschrank auf und wühlte in Kleidung und Hemden, die dort hingen. Aus der Innentasche eines alten Sakkos zog ich Geld. Ich zählte fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig. Dann hielt ich inne, darauf zog ich schnell noch einen Geldschein von fünftausend Dinar heraus. Das wird wohl reichen, dachte ich und steckte den Rest des Geldes zurück. Funfundzwanzigtausend Dinar stopfte ich in die Tasche und rannte aus der Wohnung.

An Pauls Tür klingeite ich ungeduldig zweimal und wieder zweimal. Ich hörte, daß sich drinnen jemand mit den Schlüsseln zu schaffen machte und aufschloß. Die Tür ging auf. — Ach, du bist's. Grüß dich! — Paul lächelte mir zu.

— Paul, wieviel brauchst du? — frage ich, noch außer Atem.

Er sah mich erstaunt an.

— Wieviel Geld brauchst du geliehen? — frage ich nocheinmal.

Paul lacht. — Komm doch herein!

Wir traten in Pauls Zimmer.

— Ich bin gerade erst zurück, — sagte Paul ruhig, nahm den Mantel von einem Stuhl und hängte ihn in den Schrank. Dann nahm er einen Brief von dem Tischchen, drehte ihn um und sagte: — Von meiner Schwester.

Ich schwieg.

Paul schaute mich an und sagte ganz natürlich: — Ich brauche kein Geld geliehen. Danke, vielen Dank! — wieder lächelte er mir zu.

— Ich dachte nur ...

— Wegen dem Anschlag! — sagte Paul ruhig und lächelte erneut. — Ich habe die Zettel gerade erst angeklebt. Was soll's, es muß sein, — sagte er und breitete die Arme aus. — Aber ich brauche nichts, — fügte er ernsthaft hinzu und nickte mit dem Kopf.

— Wenn du etwas brauchst ...

— Ich weiß! — Paul fiel mir leicht ins Wort. — Danke, — sagte er langsam. — Setz dich doch!

Ich setzte mich.

Er drehte, immer noch stehend, den Brief in den Händen, dann machte er ihn auf und las.

— Meine Schwester wohnt in Sarajevo, mit ihrem Mann, zwei Kindern und seiner Mutter, und nur ein einziges Gehalt, — sagte er, ohne die Augen von dem Brief zu heben, um mir als Gastgeber zu zeigen, daß er mich nicht vergessen hatte. — Meine Schwester studiert noch, weißt du? — Er schaute mich an.

Ich nickte.

Dann war Paul mit der Seite zu Ende und faltete den Brief auf. Heraus fiel ein Papierfetzen und flatterte durch die Luft. Paul hob ihn vom Fußboden auf. Er musterte ihn, las ihn, dann schaute er mich an und reichte ihn mir schweigend. Mit großen, unregelmäßigen und fehlerhaften Druckbuchstaben stand dort in Bleistiftschrift:

LIBEЯ  ONKЭL  KAUF MiR ZuM

GEBURSTAG ROLSCHUE. ICHB BIN

BRAF   ICH LiEB DICH   DEIN  ZUKEL

Ich las das, schaute den Zettel an und konnte den Blick nicht abwenden. Er zitterte in meiner Hand, die schiefen Buchstaben zittern und bleiben trotzdem stumm und tot. Und niemand braucht sie zu sehen, das weiß ich. Noch dazu diese Buchstaben! Sie verschwimmen, und Tränen steigen mir in die Augen.

— Das ist der Ältere. Er wird fünf , — höre ich Pauls Stimme.

Ich springe von dem Stuhl auf und drehe mich zum Fenster. Ich zwinkere und zwinkere und halte mit Mühe die Tränen zurück. Ach, mein Zukel, denke ich, und möchte die Tränen hinunterschlucken. In der Tasche presse ich die Geldscheine in der Hand.

Stille.

Wir schweigen eine Zeitlang.

Dann drehe ich mich langsam um. Paul steht immer noch am selben Fleck. Er ist ernst, sein Gesicht trägt einen harten Ausdruck, aber ohne die geringste Regung, wie versteinert. Ich erwarte mit Bangen, was er tun und sagen wird. Ich habe die Augen weit aufgerissen und bin ganz Erwartung und Bangen. Paul schweigt noch einen Moment, immer noch hart und versteinert, bis schließlich mit rauher Stimme herausbringt:

— Gib mir trotzdem die Zehntausend — ohne daß ein Muskel in seinem Gesicht zuckt.

Ich atme auf und lache. Am liebsten würde ich vor Freude schreien. Rasch reiche ich ihm zwei Geldscheine.

Dahinter am breiten Fenster das gewaltige Blau des Himmels ohne Maß und Ende. Nur irgendwo ganz untern, im Abgrund, wimmelt das Leben, tauchen Menschen auf, gehen aneinander vorbei und verschwinden wieder, unhörbar und still wie Geheimnisse.

(DIE ERSTEN TAGE, aus Kapitel XI,

ûbersetzt von Brigitte Simiæ)

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