Das lange Warten

Und so kam schließlich auch dieser Tag im September, Montag, der zwölfte, ich erinnere mich genau. Nein, es passierte nichts Bestimmtes, noch viel weniger etwas Besonderes oder Definitives, außer daß ich an diesem Tag den Zettel bekam. Ein winziges Stückchen Papier, acht mal zwölf Zentimeter, nicht größer, und kein einziges Wort darauf. Nur oben, links zum Rand hin eine sechsstellige Zahl mit blauer Tinte auf weißem Papier: sechs, acht, zwei, Strich und so weiter. An der Portiersloge forderte ich meinen Ausweis zurück, stieß die Glastür auf und ging hinaus. Ich schaute mich etwas versonnen um und seufzte tief. Dann zerknüllte ich den Zettel und warf ihn weg. Diese Telefonnummer hatte ich schon seit langem zu Hause. Obwohl ich noch vor einer halben Stunde gemeint hatte, es sei besser, persönlich mit den Leuten zu reden, einander zu sehen und die Standpunkte zu erklären. Ich schaute auf die Uhr. Ja, nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen, seitdem ich die enge, gewundene Treppe hinaufgegangen war, das glatte, schwarze, an Ebenholz erinnernde Geländer unter der Hand und den Läufer in dunklem Orange unter den Füßen. Das zweite Stockwerk war nicht weit, ich kannte den Gang und die Tür mit der Nummer vierzehn fast auswendig.

— Es ist noch nicht fertig, — sagte mir der Angestellte, wobei er kaum den Kopf von seinem Papier hob.

Eine Frau, die seitlich an einem Tisch dicht neben ihm saß, beachtete mich gar nicht. Sie fuhr fort, aus einem aufgewickelten Papier zu essen. Außer diesem aufgeschlagenen Papier und einigen Blättern lag auf dem einen wie auf dem anderen Tisch kaum etwas. Ein Telefon und ein zweites, die glatte Politur des Tisches schienen der einzige freie Fleck in diesem nicht eben großen Zimmer mit einem zwar großen Fenster zu sein, über das aber bis zur Hälfte ein Plastikrouleau heruntergezogen war. Vorn und hinten, links und rechts, bis hin zur Tür und zum Fenster lagen auf dem Boden Haufen von Aktendeckeln und Schachteln, Büchern, Terminkalendern, Katalogen, Gesetzbüchern und Material.

— Ich sage Ihnen doch, die Kommission hat noch nicht, — der Angestellte hob wieder leicht den Kopf, ohne das Papier aus der Hand zu legen.

— Entschuldigen Sie die Frage, — begann ich vorsichtig. — Es hat sich etwas in die Länge gezogen. Als ob es Schwierigkeiten gäbe?

Oder auch nicht, fuhr mir durch den Kopf, denn er antwortete nicht.

— Dabei meine ich aber wieder — fuhr ich etwas ermuntert fort — es ist doch weder Schund noch Politik, das sieht man doch sofort. Ich bin doch nach dem Krieg aufgewachsen, ein Kind des Sozialismus, wie man zu sagen pflegt, — sagte ich lächelnd.

Doch er beharrte in seinem Schweigen, und ich begriff, daß dieses Schweigen auch etwas ganz anderes bedeuten konnte, was mit Zustimmung und Ermutigung nichts zu tun hat.

— Da hab' ich nämlich gedacht, ob man vielleicht einen Antrag oder eine Beschwerde einreichen könnte, wie und wem?

Er zog eine Augenbraue in die Höhe.

— Wenn die Ansichten über ein Buch zum Beispiel auseinander gehen, was passiert denn dann, juristisch? — fragte ich schließlich.

— Juristisch? — sagte er mit erhobener Stimme, und ich trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Doch dazu war kein Platz. Eine ganze Säule von Aktendeckeln und Protokollen, was konnte es anders sein, geriet ins Schwanken und wäre mir beinahe auf den Kopf gestürzt.

— Dann eben praktisch? — ich mache einen Rückzieher. — Geben Sie denn eine Erklärung für Ihre Einschätzung?

— Nein! — erwiderte er kurz.

— Aber das ist nicht ganz korrekt gegenüber dem Verlag, dem Autor, nicht wahr?

Er schwieg erneut und schien den Kopf sogar noch etwas tiefer über das Papier in seiner Hand zu beugen. Ich betrachtete ihn neugierig und war wieder einen Schritt näher getreten. Die Frau beachtete ich nicht. Sie saß da, aß und schaute mich nicht an, hörte mir nicht zu, von ihr hatte ich nichts zu erwarten. Doch da rührte sie sich auf einmal, nahm einen Zettel, schrieb etwas darauf und schob ihn mir schweigend über den Tisch zu. Unwillkürlich griff ich danach. Aber ich erwartete immer noch eine Antwort, doch der Angesteilte hatte mir nichts zu sagen.

— Das ist die Telefonnummer, — sagte die Frau ungeduldig zu mir und wies auf den Zettel.

— Welche Nummer? — ich war gezwungen meine Frage zu ändern; eigentlich hatte ich meine Frage beginnen wollen — ich möchte wissen…

Doch sie hörte mir nicht mehr zu. Sie hatte offenbar alle Antworten bekommen. Sie fühlte sich heimisch an diesem Tisch mit ihrem ausgewickelten Bissen, und jemand von der anderen Seite oder woher auch immer, der hereinkommen konnte oder das auch nicht zu tun brauchte, der ebensowenig zu existieren brauchte, ein augenblicklicher Fall, ein überflüssiges Objekt, was sonst, konnte nur stören und ohne Sinn und Zweck ablenken. Die Welt begann und endete hier mit diesem Bissen und zwischen diesen papierenen Paragraphen, alles Können und alle liebgewordene Bedeutung, ganz egal, wer diese Welt geschaffen hat, welcher Gott oder welcher Schöpfer, und egal, ob es gerade für jede Frage und jeden kleinen Essay einen Platz darin gibt. Die beste aller möglichen Welten, ja geht es denn überhaupt anders? Was gibt es da viel zu reden!

— Die Telefonnummer, — sagte mir die Frau wieder ungeduldig. — Für Nachfragen.

Eine Nummer, eine gesichtslose Stimme fragen, jemanden dort fragen, nur damit ich sie jetzt hier in Ruhe lasse, selbst wenn sie dann diejenige sein sollte, die den Hörer abnehmen und sagen muß, was sie zu sagen für richtig hält, und dann wieder auflegt.

Ich begriff und sagte: — Auf Wiedersehen!

— Auf Wiedersehen! — antworteten beide.

So machte ich mich auf den Heimweg und dachte nach. Auf einmal war mir alles völlig klar.

Definition: Wenn das Subjekt das Spezifische und Bestimmte ist, das — wenn die Möglichkeit einer Empfindung besteht — fühlt, das denkt, wenn die Möglichkeit zum Denken besteht, das ißt, wünscht, sich bewegt, existiert, wenn es die Möglichkeit hat zu essen, zu wollen, sich zu bewegen, und wenn alles Übrige Objekt ist,

Dann kann man folgendes formulieren:

Satz: Der Hauptwiderspruch der Gesellschaft, dieser und jener und der Gesellschaft überhaupt, ist eigentlich der Widerspruch des Menschen selbst, des Menschen als Subjekt und des Menschen als Objekt, der ewige Widerspruch zwischen dem Subjekt als Ausdruck der Möglichkeit und dem Objekt als Mittel oder Vermittler zu dieser Möglichkeit, des Einzelnen und des Allgemeinen, generall gesprochen — des Punktes und der Unendlichkeit letztlich.

Nachtragen muß ich noch folgendes. Ich habe natürlich angerufen. Ungefähr Ende September jenes Jahres 1977 fragte ich zum letztenmal nach.

— Wir geben unsere Meinung ab oder auch nicht, wissen Sie. Sie brauchen nicht mehr zu kommen. Warten Sie! — drang die Stimme aus dem Hörer.

Also warte ich bis auf den heutigen Tag.

(POLITIK, BROT UND BUCH, aus Kapitel VIII,

übersetzt von Brigitte Simiæ)

Zum Anfang  oder